Yoga-Psychotherapie erlaubt die Integration von Hatha-Yoga-Übungen in den psychotherapeutischen Prozess. Die Techniken des Yoga führen zu einer neuen Körpererfahrung, die zur Basis für die therapeutische Veränderung wird.
Herr K. kam nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt zu mir in die ambulante Praxis. Er hatte wieder einmal eine psychotische Episode erlitten, es war bereits die dritte. Auf einer Thailandreise kam es zu dem Zusammenbruch. Notfallmässig war er in die Schweiz geflogen und mit Neuroleptika behandelt worden, therapeutisch konnte in der Klinik nicht viel erreicht werden.
Als Herr K. zur Erstsitzung kam, wirkte er wie im Schock, eingefroren, mit steifer eingefallener Brust, sehr unsicher, sehr freundlich und folgsam, aber beziehungsmässig völlig abgeschnitten von sich selbst und allen anderen.
Nachdem wir eine kurze Anamnese und ein Genogramm aufgenommen hatten, wurde klar, dass die Ängstlichkeit lange und alte Wurzeln hatte. Herr K. war als Kleinkind über Jahre chronischer physischer Gewalt ausgesetzt gewesen, später wurde er von Mitschülern schikaniert, ausgeschlossen und immer wieder physisch fertig gemacht. Er konnte zwar das Gymnasium abschliessen, scheiterte dann aber während des Studiums, versuchte sich in mehreren Berufen, in denen er nie länger als einige Monate blieb. Er war dauernd auf der Flucht, sein exzessives Reisen diente vor allem dem Vermeiden von Angst und Panik, immer wieder war es aber auch zum Durchbruch von angestauter Wut gekommen, die unter der Angst lagerte. Mir schien es, dass die psychotischen Episoden ebenfalls eine Art Flucht aus einer Realität waren, die Herr K. mit den ihm zur Verfügung stehenden psychischen Mechanismen nicht meistern konnte.
Wir begannen mit schlichten Atemübungen. Nachdem Herr K. seine Geschichte erzählt hatte und sichtlich beschämt über sein allgemeines Versagen, wie er es nannte, vor mir sass, führte ich ihn in die Wechselatmung „Nadi-Shodana“ ein. Wir sassen einander gegenüber und atmeten gemeinsam bis sich seine Aufregung gelegt, sein Puls beruhigt und seine Gedanken ins rhythmische „Links ein-Rechts aus-Rechts ein-Links aus“ eingependelt hatten.
Mit dieser Übung, die er täglich für 5-10 Minuten zuhause praktizieren sollte, entliess ich ihn bis zur nächsten Stunde.
„Pranayama“, die yogische Kunst des richtigen Atmens ist weit weniger bekannt als die meist mit „Yoga“ gleichgesetzten Körperübungen. Diese Körperpositionen sind nur eines von acht Elementen des wirklichen Yoga. Die Kunst des Atmens ist Voraussetzung, dass die Körperübungen wirksam werden können. Denn Pranayama wirkt direkt auf den Zustand unseres vegetativen Nervensystems und damit auch auf die Tätigkeit des ZNS. Durch die Verlangsamung und Vertiefung des Atems verändert sich unsere Befindlichkeit hin zu Ruhe und Gelassenheit, der Gedankenfluss wird beruhigt. Andere Pranayama-Techniken können aktivieren und energetisieren und sind vor allem bei Depressionen äusserst unterstützend.
In den nächsten Stunden verbanden wir die therapeutischen Anfangsgespräche und den Aufbau von Vertrauen und Compliance immer mit der Vertiefung und Ausfeilung der Pranayama-Praxis. Bereits nach einigen Stunden konnte Herr K. verbalisieren, was er wahrnahm und was die Atemübungen bei ihm auslösten. „Wenn ich morgens den Tag mit Pranayama beginne und dann einige Minuten sitzen bleibe und die Ruhe geniesse, geht es mir den ganzen Tag besser“.
An diesem Punkt führte ich das erste, „Asana“ ein. Dies sind die besagten yogischen Körperübungen: Haltungen im Stehen, im Sitzen und Liegen. Sie bauen Kraft und Balance auf, vor allem dienen sie der Dehnung und Flexibilität. Diese Positionen wirken tief in unser Bindegewebe hinein, dort wo Körpermuster von Spannung und Stress sowie alte, körperlich fixierten Emotionen „eingebaut“ sind. Heute weiss man bereits in der medizinischen Forschung, dass Rückenschmerzen zu 80% durch Faszienverhärtung begründet sind, weit mehr also als durch Bandscheibenvorfälle, wie bis anhin geglaubt. In der Yoga-Praxis gibt es viele Hunderte Asanas, für die Psychotherapie sind nur einige davon relevant – jene welche zutiefst die Körperstruktur verändern.
Wir begannen mit „Tadasana“ – dem „Berg“, der Grundposition. „Stehen Sie aufrecht wie ein Berg, beginnen Sie mit ihren Füssen – können sie die Verwurzelung fühlen, wie ihre Füsse Felsen sind und in die Erde ragen? Und hoch oben liegt Schnee auf ihrem Kopf, auf der Spitze des Berges. Richten sie sich auf, sie sind gross – können sie fühlen wie gross sie sind – ein Berg!“. Wieder machten wir die Übung gemeinsam, beide ohne Schuhe. Es war offensichtlich, dass Herr K. grösser war als ich. „Es gibt eben grosse und kleine Berge, zusammen sind wir ein Gebirge…“.
Dann begannen wir, Atem in die Berge zu bringen. Asanas müssen immer mit Pranayama verbunden sein. Herr K. nahm den atmenden Berg mit nachhause. Bald darauf lernte er den Krieger, um seine Kraft zu fühlen, den Lebensbaum für Balance, die Herzöffnung, um seiner Angst begegnen und standhalten zu können…
Gleichzeitig integrierten wir die psychotherapeutisch relevanten Schritte in die Körperübungen: „Nein-Sagen-Können“ wie ein Krieger. „Sich-Im-Leben-Verwurzeln“ wie ein Baum, trotz Angst sein Herz öffnen. Dieses Asana der Herzöffnung ist eine mit Kissen unterstützte Rückbeuge des Brustkorbs, die dortigen verhärteten Faszien werden gedehnt, Atem aktiviert die gespeicherten Muster des „Sich-Zusammenziehens“, es kommt zu starken Impulsen von Angst und Verletzbarkeit, die therapeutisch bearbeitet und aufgelöst werden. Im Verlauf der Therapie wird die „Herz-Öffnung“ dann als grosse Befreiung erlebt.
Für die Aufarbeitung der traumatischen Kindheits- und Jugendsituationen arbeitete ich mit Life-Span-Integration nach Perry Pace, Trauma-Arbeit nach Peter Levine und den körperpsychotherapeutischen Techniken von IBP. Herr K. lernte ein stabiles selbstbewusstes „Erwachsenen-Ich“ aufzubauen, das seinen traumatisierten „Kinderanteilen“ zu Hilfe kommen kann. Er lernte Grenzen zu setzen und für sich selbst zu sorgen.
Nachdem Pranayama und die wichtigsten Asanas etabliert waren, führte ich das dritte Element der Yoga-Psychotherapie ein: die Geistesschulung oder Meditation. Herr K. lernte seine Gedanken achtsam zu beobachten ohne sich damit zu identifizieren, er lernte die Stille „zwischen den Gedanken“ wahrzunehmen und in ihr zu verharren. Herr K. lernte, dass er seine Ängste beobachten kann, dass er sich mit ihnen nicht identifizieren muss, dass er die Stille und das Bewusstsein ist und nicht das, was darin aufscheint.
Die Verbindung von kognitiver, emotionaler und somatischer Aufarbeitung der Angstmuster zeigte eine immense Wirkung: Herr K. begann schon nach einigen Monaten an einer geschützten Stelle zu arbeiten, nach weiteren zwölf Monaten bewarb er sich im ersten Arbeitsmarkt und konnte dem dortigen Stress standhalten. Die Therapie dauerte drei Jahre, Herr K. ging durch verschiedene Phasen kindlicher, jugendlicher und adoleszenter „Nachentwicklung“, was therapeutisch geklärt und integriert wurde. Heute steht er als junger, initiativer, stresstoleranter und emotional offener Mensch vor mir, er weiss, was er will und was er nicht will. Er weiss, weshalb ihm geschah, was ihm geschah und hat Methoden erarbeitet, sich davor zu schützen, dass es nochmals geschehen könnte. Seine Neuroleptika hat er auf ein Fünftel der ursprünglichen Dosis reduzieren können. Heute verfügt Herr K. über ein Set an stabilisierenden, stimulierenden und integrierenden Yoga-Übungen, die er in Form einer Selbstpraxis einsetzen kann. Die Asanas sind mit dem jeweiligen therapeutischen Inhalt assoziiert, mit dem wir sie aufgebaut haben. Dadurch werden die erarbeiteten Kompetenzerfahrungen immer wieder aktiviert, sobald Herr K. einen Berg, einen Krieger, einen Baum, eine Herzöffnung macht.